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22 Minuten Lesezeit (4424 Wörter)

Antoine Le Menestrel - "Das Herz ist ein einsamer Jäger"

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Words by

Photo by Nicolas Mayer

ursprünglich erschienen auf: https://eveningsends.com

german words: Horst Jobstraibitzer


Ich erwähnte ganz beiläufig die Olympischen Spiele in Tokio. Während Antoine seine Füße massierte, erklärte er mir warum er glaubt, dass die meisten Kletterwettbewerbe als Volksbelustigung scheitern.

"Ich glaube, dass der Speedwettbewerb am besten funktioniert, weil es eine echte Show ist", sagt er. "Aber das Leadklettern - wo man alle paar Meter sein Seil in einen Karabiner einhängt und die Arme ausschüttelt - das ist uninteressant. 

Bouldern ist noch schlimmer - das ist Schwierigkeit kombiniert mit Zeitmessung".

Das Wettkampfklettern muss sich wieder neu erfinden und sich von seinen Ursprüngen im traditionellen Klettern befreien.

Nach seiner Karriere als Spitzenkletterer in den 1980er Jahren, in der er dazu beitrug, die Schwierigkeitsgrade von 8a auf 8c anzuheben, ist er heute Leiter einer Tanzgruppe und hat ein ausgeprägtes Gespür für die Inszenierung von Auftritten.

Le Menestrel war auch für das Schrauben der Routen des ersten Wettkampfs an einer künstlichen Wand 1986 und später für die ersten Kletterweltcups, darunter Snowbird 1988, verantwortlich. Heute, drei Jahrzehnte nachdem er seine schwierigsten Routen geklettert ist, habe ich Antoine in Südfrankreich besucht, um herauszufinden, warum er sich zurückgezogen hat und um mit ihm über seine Visionen zur möglichen Zukunft des Klettersports zu philosophieren.

Ein Teil unseres Gespräches befasste sich auch mit dem Blick auf die Olympischen Spiele in Paris 2024. Welche Auswirkungen wird es auf das Klettern und seine Zukunft haben, wenn ein Olympiasieg als höchstes erreichbares Ziel unseres Sports dargestellt wird?

Vor allem aber war ich auf der Suche nach etwas Tieferem, etwas Anderem, von dem ich dachte, dass Antoine Le Menestrel der Richtige  sein könnte, mich in dieser Frage voranzubringen . Als Miterfinder unseres Lebensstils, den wir Sportklettern nennen, hat Le Menestrel auch den Ruf, die Regeln dieses Spiels neu zu erfinden. Seine free solo Begehung von Jerry Moffatts "Revelations" 1985 (heute 8b, damals 8a+ und zugleich die schwierigste Route Großbritanniens) führte die Briten zu einer Gewissensfrage ihres Kletterstils und veränderte über Nacht die Art und Weise, wie dieser Sport in England betrieben wurde.

Für mich hatte dieses Ereignis in der Geschichte des Kletterns die Qualität eines epischen und geheimnisvollen Mythos.

Ich selbst hatte erst kürzlich mit Mitte 40 nach mehreren Jahren Pause wieder mit dem Klettern begonnen und festgestellt, dass ich mit ein wenig Disziplin und Training wieder in Routen einsteigen konnte, die früher meine Leistungsgrenze markierten.

Doch manchmal fühlte ich mich desorientiert, vor allem auf unbekanntem Terrain, und das nicht nur wegen des Trubels um die Medaillen oder weil 8a jetzt (für so viele Menschen) einfach zu sein scheint. Das Sportklettern als Ganzes schien sich auf eine Weise verändert zu haben, die ich zu verstehen versuchte.

Der aktuelle Trend zu Daten und Messungen, zu standardisierten Trainingsprogrammen und Medaillen scheint einen Aspekt des Sports zu verdrängen, den Le Menestrel in seinem Solo so spektakulär zum Ausdruck gebracht hat: 

den gespenstischen Teil, 

den geheimnisvollen Teil, 

den etwas verrückten, kreativen, brillanten, unschuldigen Teil,

die Magie!

Mein Timing, Le Menestrel anzurufen, war genau passend. Der 57-jährige, der sich immer noch weiterentwickelt, hat erst kürzlich einen Film mit dem Titel L'Escalade libérée veröffentlicht, ein Manifest, das seine radikale Vision davon, was Klettern ist und was es sein könnte, darstellt.

Während meines Aufenthaltes bei ihm hoffte ich, eine neue Perspektive auf die geheimnisvolle Frage, warum wir klettern, zu gewinnen.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich auch, dass die alten Reibereien zwischen der britischen und der französischen Kletterszene noch immer die Kraft haben, hitzige Debatten zu erzeugen.

Le Menestrels Aussehen ist so, dass man ihn sofort als eine Art Rockstar erkennt, selbst wenn man nicht weiß, wer er ist. Sein Gesicht ist zerfurcht, seine Nase schnabelförmig, sein Kinn spitz, sein Lächeln breit, seine Augen glänzend, sein Haar zerzaust. Er hat eine romantische Ausstrahlung. Sein Stil ist kratzig und lässig. Seine Kleidung von altmodischem Chic. Ein sanfter Mann mit einer weichen Stimme und den Händen eines Handwerkers.

Ich holte ihn im Büro der Künstlergruppe ab, die er Anfang der 1990er Jahre gegründet hatte: Les Lézards bleus, die sich auf vertikalen Tanz an Gebäudefassaden und Denkmälern spezialisiert hat. Ich war etwas nervös, ihn erstmals zu treffen weil ich es als Teenager liebte, in Zeitschriften über ihn zu lesen. Als er durch die Tür kam, fingen wir sofort damit an, das zu tun, was Kletterer tun, wenn sie sich treffen, nämlich über "Lösungen" zu sprechen - in diesem Fall diskutierten wir über die Lösung, die wir anwenden könnten, um die Außenseite seines Gebäudes zu erklettern.

"Nicht alles ist fest", sagte er, griff nach einem Fallrohr und schüttelte es. "Wir müssen es höflich fragen, ob es genommen werden will!"

Unser Plan war, den Tag damit zu verbringen, an einem seiner alten Meisterwerke zu klettern. Die Route, Le coeur est un chasseur solitaire (8a), findet man in der Nordwand von Mouriès, einer zwei Kilometer langen, plattigen Wandflucht in Südfrankreich. Mit 18 eröffnete Antoine während seiner Sommerferien mit der "Pariser Bande", die damals die Gegend auf der Suche nach schwierigen Routen plünderte, die Route und benannte sie nach Carson McCullers' Roman von 1940, Le coeur est un chasseur solitaire (Das Herz ist ein einsamer Jäger).

"Dieser, aus einem Buch entlehnte, Titel passt gut zu mir", schrieb er damals in sein Tagebuch. "Ich komme mir vor wie ein Liebhaber, der seine Leidenschaft nicht teilen kann."

Ich verstand, was er meinte. Zu Beginn der Pandemie hatte ich, um näher bei meiner Familie zu sein, mit meiner Frau und meinen Kindern New York verlassen und war in eine kleine Ortschaft in der Nähe der Felsen von Mouriès gezogen. Eines Tages hatte ich beschlossen, die Route allein, im Toprope, zu versuchen. Ich fand sie schwierig und wunderschön. Monate später fühlte ich mich einer Begehung nahe, aber genauso aufregend war das wachsende Gefühl, dass ich mit der Beschäftigung dieser Route auf ein vergessenes Juwel in der Geschichte des Kletterns gestoßen war.

Im Vergleich zu Le Menestrels berühmtesten Routen - Le ravage (8b+/c), in der Schweiz; und in Buoux: Elixir de violence (8a), La rose et le vampire (8b) und La rage de vivre (8b+) - hat Le coeur est un chasseur solitaire weder in Frankreich noch im Ausland viel Liebe in Form von Bekanntheit oder Aufmerksamkeit erhalten.

Der Stil, vertikale Plattenkletterei mit winzigen Griffen und schlechten Tritten, ist heutzutage nicht mehr angesagt. Mouriès im Allgemeinen ist für seine spärliche Absicherung und seine strengen Bewertungen bekannt - zwei Faktoren, die viele Kletterer abschrecken. 

"Wenn man Mouriès einmal kennengelernt hat", grinst Antoine schelmisch, "erscheint alles andere viel einfacher."

Diese "kleine" teuflische Platte war wohl eine der ersten Hochburgen des Sportkletterns weltweit, "ein nationales Kletterdenkmal auf einer Ebene mit dem Verdon, Buoux oder Céüse", wie der Führer schreibt. Dieser Sinn für Geschichte hält bis heute an. 

Die erste 8a, die jemals von einer Frau geklettert wurde, "Fleur de rocaille", (Catherine Destivelle, 1985) - auch die findet man in Mouriès. 

"1982 kamen wir erstmals nach Mouriès. Es gab dort viele Routen für mich zu klettern, viele viele Routen", erzählt Le Menestrel. "Jede Menge 7a,7b, ich genoß es wirklich." Er wurde von seinem Landsmann Laurent "Lolo" Jacob in die Region gebracht, der in Frankreich die große Ehre genießt, seinen Namen einem charakteristischen Move gegeben zu haben, dem Drop-Knee, das die Franzosen "Lolotte" nennen. 

Antoine und ich stellen also unsere Rucksäcke unter der Aufwärmwand ab und er hatte sich für diesen Tag ein Paar graue Vintage-Strumpfhosen angezogen.

"Ganz wie in den 80ern!" lacht er.

Dann öffnet er seinen Rucksack und stellt fest, dass er seinen linken Kletterschuh vergessen hatte.

"Ach nein!", sagt er. "Ach nein!"

Zum Glück haben wir ungefähr die gleiche Schuhgröße, und er überlegte, dass er mit einer Socke meinen linken Kletterschuh benutzen könnte. Aber nach ein paar Routen stellte er fest, dass die Kletterschuhe sich nicht miteinander vertragen - er fühlte eine Art kosmische Interferenz zwischen Scarpa und La Sportiva und bat mich, auch meinen anderen Kletterschuh ausleihen zu dürfen. Für den Rest des Tages kletterte er mit meinen Katanas und in schwarzen Socken.

Mouriès war für die Pariser Clique deshalb so attraktiv, erklärt Le Menestrel, weil die geforderten Fähigkeiten an ihre eigene Kletterschmiede erinnerten: an die Blockfelder von Fontainebleau.

"Kleine Griffe, kleine Tritte, keine großen Überhänge - weil es damals in Fontainebleau keine großen Überhänge gab", sagt er. "Das war unser Stil, das war der Stil der Bleausards. Wir fühlten uns auch deshalb in den Platten von Mouries sehr wohl.

Er zeigt mir Fotos, wie er damals in Mouriès kletterte: Halbnackt, den Chalkbag an die Unterhose geklippt in "Das Herz ist ein einsamer Jäger".

Es war August. Die fürchterlich heißen Bedingungen seien schrecklich gewesen. Die feinen Risse wurden zu unbrauchbaren Klemmern. Zu schmierigen Albträumen. 

"Trotz allem sind wir jeden Tag geklettert", sagt er und zuckt mit den Schultern. Insgesamt fünf Tage benötigte er für "Le coeur ...", die heute als dritte 8a Frankreichs gilt. 

Eine knackige, technisch anspruchsvolle, selten wiederholte, 8a.

"Wir verbrachten zuerst einen Monat in Mouriès und dann einen Monat in Buoux", erzählt Le Menestrel. "Während der Sommerferien. In den Jahren 1982, 83 und 84 fuhren wir immer zuerst nach Mouries und dann nach Buoux". 

"Während einer dieser Ferien hatte ich einen außergewöhnlichen Tag an dem ich zuerst eine 8a+ und anschließend eine 8b kletterte, damals die schwersten Routen von Mouriès. Danach gab es keine harten Routen mehr für mich, also konzentrierte ich mich in der Folge auf die Felsen in Buoux."

Im Jahr 2015 veröffentlichte das französische Klettermagazin "Grimper" eine Sonderausgabe, um zu hinterfragen, wie die "young guns" mit diesen Routen der old-school-Fraktion zurechtkommen würden. Chris Sharma erklärte sich dazu bereit, Didier Raboutou`s unwiederholte Kingline von Mouriès, Magie Blanche (8b+, 1989), in Angriff zu nehmen.

In einem Video mit Antoines Bruder Marc Le Menestrel, der die Linie eingebohrt hat, gelingt Sharma Magie Blanche zwischen zwei Nickerchen im Gras von Mouriès. Auf die Frage nach der Bewertung antwortet er, dass er die ursprüngliche Bewertung von 8b+ für angemessen halte und fügte hinzu, dass es schwierig sei sie zu flashen. 

Magie blanche zieht drei Meter rechts von "Coeur" hoch.

In meinen Augen ist die Route wirklich schwer lesbar - eine völlig glatte, leicht überhängende Wand mit langen, unstrukturierten Abschnitten. "Le Coeur" hat diesselbe Neigung auf derselben Länge - etwa 25 Meter, davon die Hälfte richtig hart, aber wenigstens gibt es Griffe!

In seinen Memoiren beschreibt Jerry Moffatt, der britische Kletterstar, Antoine Le Menestrel neben dem Amerikaner John Bachar als eines der herausragenden Talente seiner Generation. "Er schien sehr kreativ zu sein", schreibt Moffatt. "Ich fand, dass er sich wirklich gut bewegte, mit einem großartigen, kontrollierten, sehr flüssigen Stil und er hatte auch eine unglaubliche Ausdauer."

Le Menestrels Zeitgenosse Patrick Edlinger war dank zweier Kletterfilme, die im französischen Fernsehen ausgestrahlt wurden, bekannter. 

Rückblickend war es jedoch Le Menestrel, der oftmals als Erster in unbekannte Dimensionen vordrang. Neben seinen berühmten Routen in Buoux realisierte er die erste 8a on sight (Samizdat, in Cimaï) und stieß mit dem deutschen Star Wolfgang Güllich die Tür zu 8b+ auf.

Le Menestrel beim Klettern an "Le Cœur" zuzusehen, ist für mich inspirierend, aber nicht wirklich ermutigend.

Ich konnte mich einfach nicht der Illusion hingeben, dass mein Körper es vielleicht auch so elegant schaffen könnte. Er hat eine absolute Hüftöffnung und berührt beim Klettern beinahe mit dem Bauchnabel  den Fels.

"Sein Kletterstil erinnert an eine Eidechse oder eine Spinne. Er hat oft Ellenbogen und Knie gleichzeitig gebeugt und stellt beide Füßen auf die Zehenspitzen, so, als würde er zum Sprung ansetzen, aber anstatt zu springen, richtet er sich auf und nimmt anmutig und kontrolliert den nächsten Griff. 

Wenn es schwierig wird, atmet er rhythmisch und hörbar ein und aus.

Er sagt, dass seine Atmung sein "fünfter Haltepunkt" sei.

"Atmung ist Kraft. Diese Kraft beim Ausatmen ist sehr wichtig für mich. Ich atme aus und stelle meine Bewegung auf den Atem ein. 

Wir haben zwei Füße, zwei Hände und unseren Atem".

Während er vor 40 Jahren das freie Klettern miterfunden hatte, ist Le Menestrel heute ein Wegbereiter für das, was er "befreites Klettern" nennt. Die Idee dahinter ist, dass die vertrauten Regeln, die den "Erfolg" beim Klettern definieren, ein Spiegelbild der zahllosen elenden Sackgassen sind, die die Gesellschaft dem Einzelnen aufzuzwingen versucht, und dass es besser ist, sich von all dem zu verabschieden und so zu klettern, wie man will.

Diese Ideen werden in L'Escalade libérée destilliert, einem Manifestfilm, den Le Menestrel kürzlich mit dem Regisseur Benoît Regord herausgebracht hat, mit wunderschönen Sequenzen von klassischen Linien in Buoux und einer neuen 8b von Le Menestrel.

"Wir waren ein bisschen engstirnig bei unseren Vorstellungen vom Stil des Freikletterns. Was für ein Paradoxon!", sagte mir Le Menestrel. "Jetzt finde ich es gut, Vielfalt zu haben. 

Als damaliger Protagonist des freien Kletterns, würde ich heute folgendes sagen: 

Ich finde es gut, dass man von unten einbohrt, dass man mit Klemmkeilen sichert, dass man Skyhooks verwendet, dass man viele Dinge neu erfindet, denn sonst, wenn es nur eine Art zu klettern gibt, ist es nicht mehr interessant."

"Früher hat man zum Beispiel gesagt, dass Moulinette (Toprope) kein Klettern ist. Heute klettere ich gerne mit der Moulinette. Ich klettere nicht systematisch im Vorstieg. Ich klettere im Vorstieg, wenn ich Lust dazu habe. Du hast nicht das Recht mir zu sagen, dass ich es tun muss, wenn ich es nicht will. 

"Deshalb spreche ich jetzt von befreitem Klettern. Es bedeutet, befreit von Zwängen zu klettern. Es gibt keine Regeln mehr, man macht, was man will.

Du machst mit deiner Ethik, was du willst, es liegt an dir, zu entscheiden, deine eigene Signatur als Kletterer zu erfinden."

Nachdem er sich beim Auf- und abklettern einiger Routen aufgewärmt hatte, klettert Le Menestrel zweimal "Le Coeur" von oben nach unten, ohne Eile, methodisch, indem er sich vom Seil unterstützen lässt. 

Das ist seine neue Methode, um sich nicht zu verletzen und die Bewegung rasch zu entschlüsseln. An drei Stellen fand er in wenigen Minuten Tricks, die unnötig schwierige Bewegungen, die ich verwendet hatte, eliminierten. Zurück auf dem Boden erklärte er, dass der Weg eine große Herausforderung an unsere Kreativität stellen würde und dass ich starke Finger hätte, was ich als großes Kompliment auffasste.

Antoine sagt, eine Sache, die ihm beim Klettern oft geholfen habe, sei seine Fähigkeit gewesen, sein Gehirn davon abzuhalten, ihm zu sagen, dass er gleich stürzen würde.

"Es gibt immer einen bestimmten Punkt im Kopf, an dem du sagst: 'Ah, ich kann nicht mehr. 

"Du fällst zuerst im Kopf, bevor du wirklich fällst". 

Wenn du es also schaffst, dir nicht zu sagen, dass du fällst, gelingt dir eigentlich viel mehr, als du denkst". Meine Gedanken sind schwerer als mein Körper.

Ich frage ihn nach dem Moment, in dem er entdeckt hat, dass er eine Gabe hat, sich in der Vertikalen zu bewegen. Er erinnert sich an das Klettern in Fontainebleau mit seinen Eltern, die beide Bergsteiger waren, seinem Bruder Marc, Jibé Tribout und den anderen der Pariser Bande.

"Mein Bruder war viel stärker als ich, er hatte viel mehr Muskelkraft", sagte er. "Jibé auch. Ich hatte weniger davon. Ich habe weniger trainiert und nicht so viele Klimmzüge gemacht - ein bisschen, aber weniger als sie, weil es mich nicht interessiert hat., Ich war nicht motiviert dazu."

"Ich musste also meine Kreativität entwickeln, um Bewegungen zu finden, bei denen ich weniger Kraft aufwenden musste. Ich boulderte anders als andere. Bevor ich ein Künstler wurde, begann ich meine Kreativität bei schwierigen Bouldern zu entwickeln."

Mein Freund und Kletterpartner Nico war da, um Fotos zu machen. Nico war einer der ersten Menschen, die ich in Frankreich kennengelernt habe und der mich zum Klettern eingeladen hat. Seitdem sind wir immer wieder rausgegangen und haben unvergessliche Tage in den Calanques verbracht.

Sechzehn Monate zuvor, als meine Familie nach Frankreich gekommen war, hatte ich alle lokalen Topos gekauft und begonnen, die Kletterhallen zu besuchen, in der Hoffnung, einen Partner zu finden. Aber wegen der Pandemie waren die Hallen monatelang geschlossen, und auch die örtlichen Klettervereine waren geschlossen. Also kaufte ich mir ein Statikseil und begann, mich auf den Platten von Mouriès allein, im Toprope selbst zu sichern. Die Erfahrung dieser einsamen Tage würde ich um nichts in der Welt eintauschen wollen.

Als ich Nico kennenlernte, wurde mir klar, dass es Dinge in diesem Sport gibt, die sich nicht geändert haben und sich auch nie ändern werden. Vielleicht ist das der Kern des Ganzen. Sich mit jemandem anzufreunden und sich dem Unbekannten zu stellen. Die Kameradschaft und das Abenteuer. Die Aufregung, einen Gleichgesinnten zu treffen, dessen Muttersprache ebenso Klettern ist, unabhängig von seiner Herkunft.

Später fragte ich Nico, wie er das Klettern von Le Menestrel beschreiben würde.

"Süß", antwortete er in einem Wort. Sanft, süß, lieblich. So klettert er.

In meiner persönlichen Klettermythologie erzählte ich ihm von einem Film, der mich sehr beeindruckt hatte. Statement of Youth ist ein Dokumentarfilm über die Anfänge des britischen Sportkletterns. Zu dieser Zeit zwangen sich die Briten, sich nach jedem Sturz sofort wieder zum Boden abzulassen. Die Franzosen hatten zu diesem Zeitpunkt aber bereits das Auschecken der Routen, von jedem beliebigen Punkt der Route aus, begonnen.

Für den Film stellte Ned Feehally, der Mitbegründer von Beastmaker, das zuvor erwähnte historische Solo nach. Er trug ein Hemd mit Paisley-Muster wie das von Le Menestrel und einen versteckten Gurt, um sich zwischen den Griffen zu sichern, mit einem Berg von Protektoren darunter, nur für den Fall der Fälle.

Le Menestrel sagte mir in klaren Worten, was er von der Nachstellung hielt, und er konnte es kaum erwarten, die Geschichte seines historischen Solos wiederherzustellen.

"Am ersten Tag, an dem ich die Route kletterte, ließ ich mich ab und die Route sagte zu mir: 'Komm und klettere mich im Solo. Sofort! Ich habe es sofort gehört". 

Danach sind Jibé und ich zurückgekommen und haben es zwei Tage lang versucht. Jibé konnte sie nicht machen. Ich habe ihm gesagt: "Ich werde es im solo machen. Entweder wir fliegen sofort zurück nach Paris oder ich bereite mich jetzt darauf vor." 

Und Jibé hat mir geantwortet: 'Wir bereiten uns vor!'"

"Ich habe Revelations dann achtmal gemacht. 

Ich habe sie gemacht, wenn es sehr heiß war. 

Ich habe sie gemacht, wenn es geregnet hat.

Ich habe sie gemacht, wenn ich müde war. 

Ich bin die Route geklettert, wenn ich keine Lust dazu hatte. 

Und ich bin dabei nie gestürzt."

"Ich wollte nicht alleine gehen, ich hatte große Angst. Ich hatte große Angst, nicht davor, zu fallen, sondern dass ich psychisch in der Mitte der Route zusammenbrechen würde. Ich wusste, dass ich sie physisch schaffen konnte, aber mein Problem war psychischer Natur. 

Und so arbeitete ich, ging die Route noch einmal durch und versuchte, jedes Gefühl zu erleben. Nicht die Bewegungen, sondern das Gefühl der Bewegung. Wenn ich einen Knacks bekam, musste ich in der Lage sein, das Gefühl für die Bewegung sofort wiederzufinden. 

All das steht in meinem Notizbuch, also weiß ich es genau, es ist keine Erinnerung. Ich weiß, was passiert ist. 

An diesem Morgen bin ich aufgestanden und habe gespürt, dass heute der richtige Tag ist. Ich hatte keine Angst mehr".

"Ich bin geklettert und es war alles ganz einfach. Es war das erste Mal, dass ich wirklich das Gefühl hatte, in einem Zustand der Gnade zu klettern. Es war - einfach so - fehlerlos."

"Und deshalb habe ich, als sie in Großbritannien einen Film über die Geschichte des Kletterns gemacht haben, den Regisseur angerufen und gesagt: 'Ich bin nicht glücklich. Denn der Kletterer - er klettert nicht gut. 

Aber er ist ein sehr guter Kletterer', antwortete er mir. 

"Ja, aber der Fuß, er zögert. Er schüttelt seinen Fuß aus. Als ich die Route geklettert bin, gab es kein Zögern. Und ich bin viel besser geklettert, als er geklettert ist. Sie hätten mich deswegen anrufen sollen, damit ich kommen und die Route wiederholen hätte können".

"Ich bin nicht glücklich, weil es mir Angst macht, wenn ich ihn diese Route klettern sehe! 

Als ich die Route geklettert bin, hatte niemand Angst. Einfach, weil ich mich dabei so wohl gefühlt habe, dass niemand Angst haben musste".

Le Menestrels Solo in Révélations markierte den Triumph des französischen Kletterstils über den britischen Stil Aber für die jungen Kletterer, die neu in den Sport einsteigen, ist der britische Stil, der den Schwerpunkt auf Training legt - gegenüber dem französischen Stil, der Eleganz und Technik bevorzugt, eindeutig vorrangig.

Diese Stile schließen sich natürlich nicht gegenseitig aus.

Le Menestrel deutet an, dass das Klettern im Grunde eine Form des Selbstausdruckes ist, in all seinen Nuancen: 

Verlangen, Bedürfnis, Widerstandsfähigkeit, Anmut, Schönheit der Bewegungen, die Macht der Träume...

Die vielleicht wichtigste Einsicht ist, dass das Bedürfnis der Menschen, sich auszudrücken, sich Gehör zu verschaffen und ihr individuelles Gefühl der Isolation zu überwinden, eine zutiefst mächtige Kraft ist, die selbst mehr oder weniger zerbrechliche Menschen zu fulminanten Leistungen befähigt. 

Die Sehnsucht des einsamen Jägers ist bodenlos und ewig. Das Bedürfnis, sich selbst auszudrücken kann einen, wenn man an den Selbstausdruck glaubt, buchstäblich auf die höchsten Gipfel bringen. 

Irgendwann hat sich Le Menestrel letztlich von den schwierigen Kletterrouten abgewendet. Er hat einfach eine andere, tiefere Art des Ausdrucks durch den Tanz gefunden. Für Les Lézards bleus kreierte Le Menestrel vertikale Choreografien, bei denen Tänzer an Seilen hängen oder an Gebäudefassaden, Felsen, Kathedralen oder Nationaldenkmälern hängen - alles, was hoch und mineralisch ist.

"Ich war depressiv", sagt Le Menestrel von den Jahren seiner Hochphase als Kletterer. "Und deshalb habe ich mein Unwohlsein in schwierigen Kletterrouten ausgelebt. Aber als ich die Kunst entdeckte, konnte ich mein Unwohlsein umwandeln. Ich konnte es sublimieren, um etwas zu machen, das zu meiner Energiequelle wurde - um mich auszudrücken."

"Als ich anfing, mehr Tanzaufführungen zu machen, brauchte ich nicht mehr auf mein Gewicht zu achten. Ich konnte mit den schwierigen Routen aufhören. Ich konnte andere Dinge tun."

Zurück zu Mouriès: 

Nun war ich an der Reihe, einen ernsthaften Durchstiegsversuch im "Herz" anzugehen. Bald klippte ich den letzten Bolt und fand keine Position mehr, meine müden Arme auszuschütteln. Ich konnte Antoine hören, wie er rief: "Allez, Tom! Los!" 

Ich kletterte weiter und erreichte die Griffe meines bislang besten Versuches. Ich presste eine Leiste mit der linken Hand zu Tode, setzte, wie Antoine, meine Füße möglichst hoch und erreichte ein Zweifingerloch mit meiner Rechten. 

Ich hoffte, dass Antoine nicht den Eindruck gewann, dass ich wie Ned Feehally kletterte. 

Dann setzte ich meinen rechten Fuß auf einen Reibungstritt und hielt Ausschau nach dem nächsten Griff.

Der Reibungstritt war sehr schlecht. Ich drückte meinen Fuß gegen den Fels. Verzweifelt. Dann rutschte ich ab und fiel.

Als wieder Sauerstoff in mein Gehirn zurückkehrte, wurde mir klar, dass ich gerade versucht hatte, eine Sequenz zu klettern, die ich bereits zwei Meter weiter unterhalb geklettert war - mein innerer Speicher hatte mir diesselbe Bewegung ein zweites Mal aufgerufen, ungeachtet dessen, was ich vor Augen hatte. Der richtige Tritt wäre ein Loch gewesen, das von oben nicht zu sehen war.

Antoine ließ mich zum Boden ab und grinste. Wir klatschten uns ab. Er war aufgeregt. Nico war aufgeregt. Wir alle waren aufgeregt. Bald würde es klappen!

Während das Blut in meine Unterarme schoss fragte ich mich, ob Le Menestrel wirklich den heiligen Gral gefunden hatte. 

Hatte er das getan, was wir alle tun sollten und herausgefunden, wie man "für sich selbst" klettert?

Wir sollten uns seinen Film ansehen. Seit jenem Tag, an dem ich mit ihm kletterte, denke ich über zwei Lektionen nach, die er mir erteilt hat, eine recht allgemeine und eine spezifischere.

Die allgemeinere lautet: 

Wenn es dir gelingt, diese zutiefst persönliche Quelle der Motivation als Kletterer zu finden und anzuzapfen, die aus deinem Inneren kommt und nicht aus dem Spiegelbild der Leistungen anderer, dann findest du den Antrieb für dein Tun. Aber das ist nicht einfach, denn wir sind soziale Geschöpfe und Gesellschaft bedeutet Druck, sich anzupassen, denn die Herde muss überleben. Die Geschichte des Bergsteigens ist voll von Genies, die vielleicht so aussahen, als würden sie von der Herde abweichen (und das taten sie auch). Denkt an John Gill und das Bouldern, John Bachar und das Training, Lynn Hill und das freie Klettern am El Capitan. Le Menestrel und das Tanzen oder Chris Sharma und das Deep Water Soloing.

Die spezifischere Lektion, so wie ich sie mir vorstelle, betrifft das Gewicht von Erwartungen und um wie viel leichter lässt es sich zu klettern, wenn man sch fallen lassen kann. An dem Tag, an dem wir gemeinsam zum Klettern gingen, erklärte sich Le Menestrel als alternder Athlet bereit, eine Szenerie aus seinem früheren Ruhm noch einmal zu besuchen, eine Route, die zu seiner Berühmtheit beigetragen hat, die er aber seit Jahrzehnten nicht mehr besucht hatte. 

Es ist eine schwierige Route, eine von denen, die einem ein Gefühl der Hilflosigkeit vermitteln kann. 

Er ließ sich auf dieses Abenteuer mit einem Journalisten ein, den er noch nie zuvor getroffen hatte - und er schien Spaß daran zu haben (und beinahe durchstieg er die Route in fremden Schuhen).

Oft, wenn ich zu einem Boulder oder einer Route gehe, in einer neuen oder alten Halle klettere oder mich sogar auf eine Campusboard-Trainingseinheit vorbereite, spüre ich eine gewisse Spannung: Wenn ich diese Route/diesen Boulder/diese Trainingseinheit schon einmal gemacht habe, kann ich sie/es dann noch machen? Wenn ich hier neu bin, werde ich gut klettern können? Wenn ich etwas so Schwieriges letzte Woche gemacht habe, kann ich es dann diese Woche noch schaffen? Was werden meine Partner von meiner derzeitigen Anstrengung halten? Werde ich dem gerecht, was sie von mir erwarten? Werde ich meinen Erwartungen an mich selbst gerecht? Diese Spannung mag belastend erscheinen, und das ist sie auch.

Aber dann denke ich an Le Menestrel und erinnere mich, dass er - ohne Furcht - bereit war, den Weg seiner Vergangenheit zu beschreiten, der letztlich nur eine Kletterroute war.

Antoine Le Menestrel ist heute hier, lebt und klettert, ohne Angst seinem Status als Antoine Le Menestrel nicht gerecht zu werden! Also muss ich mir natürlich auch keine Sorgen machen, meine "Legende" zu zerstören: 

Das Gewicht der Erwartungen ist eine Illusion. Es ist Nichts!

Laut einer der vielen Theorien meiner Frau zu den formellen französischen Umgangsformen siezen Sie jemanden so lange, bis er auf "tu" besteht. Gegen Ende unseres Klettertages, an dem ich konsequent darauf bestanden hatte, Le Menestrel mit "Sie" anzusprechen, machte er einen Witz über dieses Thema. Er sagte zu mir: "Wenn du zu mir 'du' und nicht 'Sie' sagst, dann wirst du diese Route durchsteigen"

Er nahm einen Stift aus seinem Rucksack.

"Wo fängt das Ding an?", fragte er. "Früher fing es hier an!" Tatsächlich begann die Route ursprünglich ein paar Meter links vom direkten Start, den ich benutze, aber im Laufe der Jahre wurde der ursprüngliche Einstieg von Dornensträuchern überwuchert. Wie Dornröschen in ihrem Schloss.

"Na ja, jetzt fängt es hier an", sagte er. Ich benutze immer blaue Farbe". Mit einem schelmischen Blick begann er, in schönen kursiven Buchstaben, den Routennamen an die Wand zu schreiben.

Eine Tradition, die die Pariser Bande erfunden hatte war, dass man nach einer Erstbegehung den Namen der Route an den Wandfuß schrieb. Nun malte Le Menestrel seinen längst verblassten Schriftzug nach. 

"Das Herz ist ein einsamer Jäger".

Er drehte sich zu mir um.

"Das ist für dich, Tom", sagte er. Für dich."

Le coeur est un chasseur solitaire (Das Herz ist ein einsamer Jäger)

Aber manchmal, für eine gewisse Zeit, geht es einen gemeinsamen Weg.



 

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