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3 Minuten Lesezeit (616 Wörter)

Als gäbe es kein Morgen

58724842_333421943951364_8145367032611733504_n-1 Arena Mixnitz; (c) Hannes Raudner

Als ich erwache, kann ich meinen Kopf nicht mehr drehen. Auch mein rechter Fuß fühlt sich komisch an. Ich starre in die dunkle Schwärze der Nacht. Irgendetwas passt hier ganz und gar nicht. 

Kurzzeitig denke ich sogar an einen Schlaganfall. Schon bin ich dabei mir zu überlegen, wie der FAST Schnelltest funktioniert als mir einfällt, wo ich den Abend zuvor verbracht habe. Die bereits aufkommende Panik weicht einer erlösenden Diagnose. Am Vorabend war ich nämlich in einer neuen Boulderhalle namens "Newton" und ich habe dort in meiner Begeisterung wieder einmal völlig übersehen, dass ich keine Zwanzig mehr bin. 

"Anreissen als gäbe es kein Morgen" hieß die Devise und auch beim apres Climb bis zur Sperrstunde ließ sich mein junggebliebenes Herz nicht lumpen. Es war wie in alten Zeiten und es machte riesigen Spaß.

Dass es doch einen nächsten Morgen gibt, bekomme ich nun schmerzvoll zu spüren. Gequälten Blickes schleppe ich mich zum Frühstückstisch, wo mich meine Frau bereits mit sorgenvollem Blick erwartet.

"Was ist den mit dir los?"

Ich murmle irgendwas von schlecht geschlafen und total verlegen. "Wir brauchen echt wieder mal ne neue Matratze. Ich hab soooo einen Hexenschuss aufgerissen" sage ich im Brustton der Überzeugung und lasse erstmal gar keinen Zweifel an der Echtheit dieser Version aufkommen.

Mit einer ordentlichen Portion Sport Gel bringe ich mich immerhin soweit in Schwung, dass ich mich an den Tisch setzen kann. Während ich dort ungelenk Honig auf mein Brot streiche, kommt meine Frau natürlich sofort hinter mein schlau gehütetes Geheimnis.

"Von wegen Verlegen und schlechter Matratze" sagt sie und sieht mich streng an. "Du warst gestern bestimmt wieder klettern und hast angerissen als gäbe es kein Morgen. Du kapierst es wohl nie! Du bist doch keine Zwanzig mehr!"

Sie hat recht. Ich kapiere es echt nicht und klettern macht einfach viel zuviel Spaß um vernünftig zu sein.

Wieder einmal bin ich aufgeflogen. Mittlerweile bin ich wenigstens so vernünftig, dass ich ihr fast immer erzähle, wann ich zum Klettern gehe. Und mit wem. Und wohin.

Das war nicht immer so. Bereits als Schüler täuschte ich oft vor, brav in die Schule gehen zu wollen und anstatt in den Zug zu steigen, wartete hinter dem Bahnhof bereits mein Kumpel Rainer mit seinem VW Bus. Oftmals ging an diesen "Schultagen" im Grazer Bergland oder im Hochschwab irgendetwas schief und ich kam abends zerschürft und zerschunden nach Hause zurück. Meistens konnte ich meine Eltern aber mit durchaus glaubwürdigen Ausreden zufriedenstellen.

Später dann, als unsere Kinder klein waren und am Haus noch jede Menge Arbeit auf mich wartete, hatte meine Frau logischerweise wenig Verständnis für meine Kletterleidenschaft. Anstatt jedoch meinen Pflichten nachzugehen, verstaute ich immer wieder Rucksack und Crashpad im Kofferraum und ging, sooft es der Job zuließ, heimlich zum Klettern. 

Zu dieser Zeit gab es im Grazer Bergland auch eine kongeniale Seilschaft, die ihre Touren interessanterweise ausschließlich unter der Woche durchführte. Irgendwann ertappte ich die beiden, als sie am Bärenschützparkplatz in feinstem Zwirn aus dem Auto sprangen und sich die Kletterklamotten überwarfen. Offiziell waren sie brav im Büro und die Ehefrauen hatten keine Ahnung, dass ihre Göttergatten in Wahrheit eine lässige Tour nach der anderen abhakten.

Mittlerweile sind die Kinder erwachsen, das Haus ist längst fertig (genau genommen stehen schon die ersten größeren Renovierungen dringendst an) und klettern macht Spaß wie eh und je. 

Anstelle also die Balken abzuschleifen und neu zu streichen zieht es mich weiterhin in die Vertikale. 

Allerdings werde ich die Logistik für 2022 wohl ein wenig umstellen müssen. Perfekt wäre es natürlich, wenn ich am nächsten Tag frei habe, um mich von den Anstrengungen auszukurieren. Dann nämlich könnte ich am Vortag am Fels die Sau rauslassen und so lange klettern bis man die Hand nicht mehr vor den Augen sieht. Anschließend werde ich im Licht der Stirnlampe aus dem Graben stolpern um beim Wirten meines Vertrauens (=Hubert) einzukehren und im Kreise meiner Freunde die Freiheit des Klettererdaseins zu genießen. 

Solange, bis er Sperrstunde macht und ich mich mit müden, zerschundenen Knochen nach Hause schleppe mit dem sicheren Wissen: "Der nächste Morgen kommt bestimmt." 

 

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