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4 Minuten Lesezeit (751 Wörter)

Bock auf Verdon

Bock auf Verdon

Mitte der Achtzigerjahre war La Palud, das kleine Dorf unweit der Verdonschlucht, der Nabel der europäischen Sportkletterwelt. Der Nabel des Nabels dort war die Bar Lou in der Mitte des Ortes. Und in der Bar wiederum war das Zentrum der Tischfußballautomat.

„Seid ihr dem Ziegenbock oben an der Schlucht schon begegnet?" fragte einer der Schweizer, die Christian und mir dort anlässlich eines Länderspieles am Automaten gegenüberstanden.

Wir beide schüttelten den Kopf. Nicht, dass wir wüssten.

„Hütet euch vor dem Biest", fuhr er fort. „Das Vieh ist völlig übergeschnappt".

Am Vortag waren er und sein Kumpel um ihr Leben gerannt. Der Ziegenbock muss wohl übler Laune gewesen sein. Jedenfalls hatte er die beiden bis zum Parkplatz gejagt und erst in allerletzter Sekunde ist es ihnen gelungen ins Auto zu springen. Der wütende Bock ging daraufhin auf die Karre los und haute eine ordentliche Beule ins Blech. Christian und ich lachten Tränen, als wir uns die Szene bildlich vorstellten.

Bereits die ganze Woche lang waren wir einen Klassiker nach dem anderen in der Schlucht geklettert und wir genossen Tag für Tag wolkenlosen Sonnenschein und den besten Fels, den man sich nur vorstellen kann. Den Ziegenbock hatten wir kein einziges Mal gesehen und wir bezweifelten, dass es den zotteligen Burschen, der oben am Schluchtrand sein Unwesen treiben sollte, auch tatsächlich gab.

An unserem letzten Urlaubstag kletterten Christian und ich im Sektor Belvedere de la Carelle. Es lag an mir die letzte Seillänge der Tour vorzusteigen und nach ein paar kräftigen Metern, vom Stand weg, kletterte ich um eine Kante und verschwand aus dem Sichtfeld meines Sicherungspartners. Die Wand legte sich nun ein wenig zurück. Es wurde plattig und die Distanzen zwischen den Bohrhaken waren alles andere als kurz. Ich muss zugeben, dass mir die Angst ganz schön im Nacken saß. Plötzlich fiel mir ein unangenehmer, strenger Geruch auf. Ich schnupperte. Was zur Hölle ist das denn? Auf der Suche nach der Ursache des grausigen Gestanks schaute ich nach allen Seiten und wurde bald fündig. Genau über mir saß, direkt auf meinen Ausstiegshenkeln, ein Riesenvieh von Ziegenbock und glotzte auf mich herab. Der Bock verströmte einen Smell, der nicht von dieser Welt war. Ohne jede Regung beobachtete er mich und käute dabei wieder. Immer wieder stieß es ihm auf und jedes Mal verschlug es mir den Atem, wenn es die Wolke herunterwehte. Mann, war das ekelhaft! Mein Ekel wurde jedoch rasch von der Überlegung abgelöst, dass ich in dieser Position nicht lange würde bleiben können und ich mir schleunigst einen Ausweg aus dieser Situation suchen musste. Abklettern war mir auf dieser Reibungsplatte unmöglich. Runterspringen war keine Option. Bei dieser Wandneigung und der Entfernung, die ich bereits über dem letzten Bohrhaken stand, würde es wohl nicht ohne schmerzhafte Abschürfungen abgehen. Blieb also nur mehr der Weg nach oben.

Ob das überhaupt der verrückte Ziegenbock war? Vielleicht war es ein ganz anderer. Ein gutmütiger. Andererseits – wenn es der Wahnsinnige war, hatte ich schlechte Karten. Im Geiste sah ich mich schon runterfliegen, nachdem er mich mit seinem imposanten Gehörn über die Kante gekickt hatte. Ich begann vor Angst zu schwitzen. Wenigstens ein Gutes hatte der Gestank des Bockes. Meinen Angstschweiß konnte er gewiss nicht wittern.

„Hau ab Stinker" rief ich ihm zu und versuchte meiner Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen. Ich wollte ihn nicht unnötig reizen.

Der Ziegenbock dachte gar nicht daran, sich zu verziehen. Er kaute und glotzte.

Meine Waden begannen auf den Reibungstritten zu krampfen. Ich musste etwas unternehmen – und zwar schleunigst. Meinen ganzen Mut zusammennehmend, trat ich die Flucht nach vorne an. Zwei, drei rasche Bewegungen - ich schnappte die Griffe neben meinem gehörnten Begleiter und wälzte mich in die Horizontale.

Erschrocken fuhr der Ziegenbock hoch.

Bange Sekunden standen wir uns Aug in Aug gegenüber. Ich erwartete den final move. Den Rammstoß, der mich wieder in die Schlucht hinab befördern würde. Überraschenderweise machte der zottelige Geselle plötzlich kehrt und trottete gemächlich durch die Sträucher davon. Mein Herz schlug bis zum Hals und es vergingen einige Minuten, bis ich den Standplatz bauen und Christian nachholen konnte. Der hatte von dem ganzen Drama nichts mitbekommen und schwang sich kurze Zeit später über die Schluchtkante.

„Sag mal, was verwest denn hier?" fragte er mich, als ihm der Gestank in die Nase fuhr. Suchend schaute er sich um.

Dann fiel sein Blick fiel auf meine Kletterpatschen.

„Jetzt wird's aber allerhöchste Zeit, dass du die wegwirfst" sagte er zu mir und er verzog angeekelt sein Gesicht.

„Ist ja widerlich, wie die Dinger stinken".


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Verdonschlucht
 
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Die Verdonschlucht, französisch Gorges du Verdon, ist eine Schlucht...

Kletterführer von Verdon
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Die Klippen an der sonnigen Côte d'Azur und im...

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